Die ersten drei Romane



Ein erzählerisches Naturtalent ist Catalin Dorian Florescu genannt worden, und das zu recht: denn seine anrührende, lebendig und schnörkellos erzählte Jugendgeschichte kommt so gut wie ohne Kunstgriffe aus. Zu Beginn des Romans sitzt der fünfzehnjährige Alin mit seinen Eltern an der rumänisch‑jugoslawischen Grenze fest. Vor wenigen Minuten ist sein Vater in der gelben Zollbaracke verschwunden; Mutter und Sohn warten im Auto fast reglos auf seine Rückkehr. Endlos dehnen sich diese Minuten ‑ Zeit genug, einen ganzen Roman zu erzählen,
Die Wunderzeit, von der das Buch erzählt, begann fünf Jahre zuvor, als die örtlichen Behörden den Jungen in Begleitung seines Vater zur medizinischen Behandlung nach Italien reisen ließen. Ausschlaggebend waren dabei die guten Beziehungen des Vaters: Als Hausverwalter hat er der Miliz täglich Informationen über alle Mieter zu liefern, Zwar bemüht er sich nach Kräften, niemandem zu schaden ‑ aber als Dissident wird er im Westen wohl kaum durchgehen, obwohl er das, auf seine vorsichtige Weise, vielleicht sogar ist. Sein unfreies Land liebt er jedenfalls nicht, im Gegenteil. Er und seine Frau wollen mit Alin unbedingt ausreisen ‑ und das nicht nur wegen der Muskelkrankheit des Jungen, die im Westen möglicherweise geheilt werden kann.
So steht alles, was aus der freien Welt kommt, bei ihnen hoch im Kurs, und ihr Sohn wächst mit den italienischen und französischen Filmen der sechziger Jahre auf. Vor allem Fellinis La dolce vita hat ihn beeindruckt: Die Souveränität der Männer, die erotische Ausstrahlung des Frauen und ihr ungebundenes Leben scheinen ihm das größtmögliche Glück zu verheißen. An diesem Vorbild wird er all seine Erfahrungen im Westen messen, allerdings auf eine sehr Fellinische, gewitztpragmatische Weise.
Catalin Dorian Florescu wurde 1967 in Temesvar geboren, und die Eckdaten seiner Biografie entsprechen weitgehend jenen seines jugendlichen Erzählers: 1976 erste Ausreise mit dem Vater nach Italien und nach Amerika; Rückkehr nach Rumänien, 1982 endgültige Emigration. Seine spannende Schilderung eines Teenagers, der, während er in die Erwachsenenwelt hineinzuwachsen beginnt, aus seiner Heimatwelt herausfällt, könnte man ein Jugendbuch im besten, klassischen Sinne nennen. Konsequent aus der Sicht des Jungen, von seinem Erfahrungs‑ und Wissenshintergrund aus erzählt, entfaltet sich unspektakulär und realistisch eine Geschichte der Selbst‑ und Bewusstwerdung, die sich vor allem an Details und kleinen Gesten orientiert, und deshalb äußerst glaubwürdig ist.
So erzählt Alin zunächst von seinem normalen Alltag in einer rumänischen Kleinstadt: von erotisch aufgeladenen Badeausflügen; von der hübschen Geschichtslehrerin, bei der er, um einen guten Eindruck zu machen, Ceaucescus Heldentaten« referiert; und vom Nationalfeiertag, den er liebte wegen des Bratenduftes und des im Fernsehen übertragenen Festumzuges, in dem er ganz vorne mitmarschierte, um den Mädchen zu imponieren.
Aber natürlich liebt er Rom vom ersten Moment an; ist es doch seine Stadt der Liebe aus La dolce vita. Die neue, aufregende Körperlichkeit der Frauen und Mädchen beschäftigt ihn Tag und Nacht; und in der Sprache fühlt er sich sofort zu Hause: Er lernt sie so schnell, dass er bald die Stimme des Vaters wird. So bringt er sprachlich seine zwei größten Helden zusammen, denn der Vater sieht ein bisschen wie Marcello Mastroianni aus.
Catalin Dorian Florescu unterlegt hier sehr geschickt die Realität mit Filmbildern und lässt so in Alins Kopf eine neue Wirklichkeit entstehen, die mehr Farbe und Intensität als die tatsächliche, und mehr Geruch und Wärme als die filmische besitzt. So sieht der Erzähler natürlich die berühmte, Anita‑Ekberg‑Szene vor sich als er mit seiner Freundin Anna am Rande der Fontana di Trevi sitzt; aber Annas zierliche, sich im Wasser neckisch bewegenden Füße werden erst vor diesem Hintergrund wirklich aufregend.
Bei all dem lässt der Autor seinen Helden aber soweit realistisch bleiben, das er in der Fremde den einzig erfolgversprechenden Weg einschlägt, seine Umwelt mit den Mitteln des Individuums zu erobern: mit genauer Beobachtung, Gefühl und Sprache. So hatte er sich schon Hause gegen die Zugriffe des Staates gewehrt, so verweigert er sich jetzt falschen Vereinnahmungen aller Art. Dabei machen ihn seine an Fellini geschulte, emotionale Unbestechlichkeit klarsichtig und aufmerksam für falsche Töne. Und der aus dem fremden Alltag oft ergebende Widerstreit der inneren Stimmen wird Ansatzpunkt, um über das, was er verlassen hat, neu nachzudenken. Auf der zweiten Station ihrer Reise landen Vater und Sohn in New York bei einer verelendeten rumänischen Auswandererfamilie in der Bronx, und die Erfahrungen dort sind so niederschmetternd, beide nach Hause zurück wollen, auch auf die Gefahr hin, nie wieder reisen zu dürfen. Aber sie schaffen es: Vier Jahre später sitzt die ganze Familie mit Reisepässen an der Grenze und Alin beginnt zu ahnen welche Rolle die Politik in ihrem Leben spielt. Ob sie Vater jetzt wohl foltern überlegt er angstvoll im Auto. Aber darauf dürfen sie passieren, und das Letzte was sie von ihrem Land hören, ist der Lautsprechersatz des Obergenossen: Wir werden alles tun, um uns von Kapitalismus und Imperialismus zu befreien.
„Jawohl, wir werden alles tun!" rufen die drei Reisenden und brechen in hemmungsloses Lachen aus.

Erwin Reiss, Spectrum/Die Presse, Wien, 3.05.03 - Der Kurze Weg Nach Hause:
Den Osten, die europäische Terra incognita, erkundet man am besten ohne Vorbildung. Oder man liest die Bücher von Catalin Dorian Florescu.
Der Standard, 8.03.03 - Der Kurze Weg Nach Hause:
Wenn Catalin Dorian Florescu erzählt, dann blühen die Seiten.
New Books in German, Herbst 2002 - Der Kurze Weg Nach Hause:
Das ist Ian McEwen, aber mit weit mehr Humor, Ironie und Salz. Ein einmaliges Panorama des Lebens in Osteuropa während und unmittelbar nach den letzten Tagen der Sowjetherrschaft.

Es gab noch ein Körnchen Schönheit. Solange ich das dachte, war ich sicher.
Ich hatte die Grenze seit zehn Minuten überschritten. Der Pope sass neben mir und roch nach Knoblauch. Der Knoblauchgeruch wanderte von seinem Magen hinauf in seinen Rachen, dann in den Mund. Er hüllte uns darin ein, mich, seine Frau, den Jungen, den alten Waldarbeiter und sich selbst. Wenn er so weitermachte, würde ich ohnmächtig werden und gegen einen Baum fahren. An Bäumen mangelte es diesen Strassen nicht, an Kreuzen ebenso wenig.
Es waren wilde Landbäume, die nach allen Richtungen wuchsen, nur die Landkirchen wuchsen in den Himmel. Sie hatten Rückgrat. Unter den Bäumen standen Kreuze. Jedes Kreuz hatte seine Familie. Sie versammelte sich rundum und flüsterte: Hier ist es passiert. Der Ärmste. Dann erzählten sie sich das Leben des Ärmsten. Das waren dann Bäume mit Geschichten.
Alle paar Kilometer war das Land mit Toten gespickt, bis die erste Hilfe zu spät kam, lagen sie da und warteten. Vielleicht war das nicht der schlechteste Ausgang, wenn man aus dem Leben wollte. Man lag im Schatten, ein kleiner Wind kam und auch der Teufel, der nachschaute, ob er einen mitnehmen konnte.
Ich erinnerte mich, dass ich in meiner Jugend gesehen hatte, wie die Bauern Mohnsamen in den Sarg legten, damit der Tote sie abzählte und sich so vom Abschied ablenkte. Wie man aus den Mohnsamen das Schicksal des Neugeborenen erfuhr und die Anzahl der Münder, die man in seinem Leben füttern würde. Die Bauern glaubten an so etwas, dagegen konnten die Kommunisten nichts ausrichten.
Der Pope war für eine letzte Ölung gerufen worden, und er hatte gleich die ganze Familie mitgenommen. Es war eine Art Ausflug für Gott.
Der Mann ist an seinem bösen Herzen gestorben. Er hat niemandem etwas gegönnt, meinte der Pope, nachdem wir eine Weile gefahren waren.
In seinem Gebet aber hat der Pope nur das schwache Herz zugelassen, danach gab es reichlich Knoblauch, den er nun in meinem Auto los wurde. Insofern hatte auch ich etwas von der Ölung.
Ich beschleunigte und sah uns alle unter einem prächtigen Baum liegen, das Auto zertrümmert, über uns schwebte Knoblauchgeruch und vermischte sich mit den Gerüchen des Feldes. Bis man uns barg, musste man warten, damit er sich verdünnte. Dieses Land lag unter einer dichten Geruchsglocke. Sie wappneten sich alle täglich gegen den Teufel. Der hätte längst auswandern können, aber er harrte aus. Er liess sich Zeit. Die Zeit spielte ihm in die Hände.
Die Schuhe des Popen glänzten, ihm aber war das nicht genug, denn er rieb sie an den Hosenbeinen, zog sie aus, spuckte darauf und polierte sie mit dem Ärmel. Im Bart blieb ein bisschen Spucke hängen, die er mit der Hand wegwischte. Jetzt hatte er bespuckte Hände. Die Schuhe waren ihm wichtig, das merkte man gleich. Sie mussten ihn noch durch viele Ölungen und zu vielen gedeckten Tischen tragen.
Der Weizen schoss hoch, grün und zuoberst schon flaumig. Die Mohnblumen waren in der Luft aufgehängt, wie winzige Explosionen in Rot. Das Land war flach wie eine Handfläche, nach allen Richtungen sah man nichts, was den Blicken widerstand. Es war Mai, aber die Geschäfte, die mich hierher führten, waren keine Maigeschäfte, bei denen das Herz in Liebe höher schlug.